WOHNSTILE + ACCESSOIRES

RETRO NEU GEWAGT

Text: Dr. Thomas Hauffe

Warum die neuesten Trends oft gar nicht so neu sind – oder: wie das Design der Achtzigerjahre das Wohngefühl in Deutschland über den Haufen geworfen hat. 

Viele der neuen Trends haben eines gemeinsam: Sie spielen mit althergebrachten Konventionen und machen das, was früher als ungemütlich, unpassend oder unmöglich galt, in ironischer Umdeutung zum Trend. Witz und Ironie sind heute aus der Welt des Designs und der Mode nicht mehr wegzudenken. Und die trendbewussten Käufer verstehen diesen Code. Das weist sie als intellektuelle Kenner aus. Doch wie ist es dazu gekommen, dass Sessel aus alten Paletten, Taschen aus LKW-Planen, Regale aus Stahl und Autoscheinwerfer als Designerleuchten Einzug ins deutsche Wohnzimmer halten konnten, und das nicht nur über Designgalerien und trendige Möbelhäuser, sondern inzwischen ganz selbstverständlich auch bei IKEA und im Baumarkt?

PROTEST UND PROVOKATION – DAS SPIEL MIT DEN ZEICHEN UND SYMBOLEN

Am Anfang war der Protest gegen überholte Design- und Wohnvorstellungen. Ihn hat es schon im 19. Jahrhundert und auch später immer wieder gegeben. So hat sich schließlich die ganze Designgeschichte überhaupt entwickelt. Aber dass dieser Protest mit den Mitteln des Witzes und der Ironie, durch semantische Umdeutung geäußert wird, ist dann doch relativ neu. Erste provokative und ironische Statements in Form von witzigen Möbeln kommen in den späten Fünfzigerjahren und mit der Pop-Art auf, als Künstler und Designer die bekannten Begriffe von Kunst, Kultur und Design infrage stellen und, wie zum Beispiel die Gebrüder Castiglioni in Italien, einen Fahrradsattel oder einen Traktor­sitz zum Sitzmöbel für den Wohnbereich machen. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hat es dann wieder Entwürfe von Designern gegeben, oft im ohnehin schon immer experimentierfreudigen Italien, die bekannte Gewohnheiten und Wohnkonventionen witzig persiflieren.

Die internationalen Protestbewegungen der Achtundsechziger haben auch in Deutschland den studentischen Protest und die Auflehnung gegen überkommene Traditionen in den Wohnbereich getragen. Die Konsumkritik der Studentenbewegung wirkte sich auf die Wohn- und Einrichtungsgewohnheiten aus. Mit der Wohngemeinschaft bzw. der „Kommune“ wurden neue Formen des Zusammenlebens als Alternative zur bürgerlichen Familie erprobt. Zusammen mit einer konsumkritischen Haltung und zunehmendem ökologischen Bewusstsein drangen dann plötzlich in Studenten-Kommunen und in linksliberalen Kreisen des Bildungsbürgertums Trödel, Sperrmüll und selbstgebaute Möbel ins Wohnzimmer. Und wieder aus Italien kam dann 1980 die Designergruppe Memphis um Ettore Sottsass, die (unter anderem) dem internationalen, und auch dem deutschen Design, die neuen Impulse gab, die es brauchte, um aus den Achtzigerjahren DAS Designjahrzehnt zu machen. Das Design schien plötzlich wie entfesselt. 

DAS NEUE DEUTSCHE DESIGN

In ganz Europa bilden sich in den Achtzigerjahren nun Gruppen und Bewegungen, die mit viel Witz und Ironie gegen alte Wohn- und Sehgewohnheiten rebellieren. Die alte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Form und Funktion wird auf vielfältige Weise neu gestellt, das Dogma des Funktionalismus abgesetzt. Auch in Deutschland schließen sich junge Designer, die nach ihrem Studium vor der Arbeitslosigkeit oder in unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen stehen, in Gruppen wie „Möbel Perdu“, „Berlinetta“, „Kunstflug“ oder „Ginbande“ zusammen und beginnen selbständig und auf experimentellem Weg zu neuen Gestaltungsansätzen zu gelangen. Vom Entwurf über die Produktion bis hin zum Vertrieb nehmen sie alles selbst in die Hand, zum Teil ganz programmatisch, zum Teil auch deshalb, weil die Akzeptanz der Möbelindustrie fehlt.

In ihren Prototypen, die sie in aufsehenerregenden Ausstellungen in Museen und Galerien präsentieren, setzen sie sich vehement wie noch nie zuvor in der Designgeschichte mit den Strukturen der Ausbildung, der Industrie und der althergebrachten Wohngewohnheiten auseinander. Vor allem der Spaß an der Sache, die geistreiche Provokation, das ist etwas, was es vorher im offiziellen deutschen Design auf so breiter Front nicht gegeben hat. Der alte Funktionalismus war eine ernste Sache, das Bauhaus war eine Kirche, und das Credo des Designs „Form follows function“ war das alles beherrschende Dogma. Und nun treten junge Designer frech und laut in die Öffentlichkeit und stellen alles infrage. Sie führen Materialien in den Wohnbereich ein, die man vorher dort niemals akzeptiert hatte, die als Kitsch, oder die als minderwertig und billig galten: Beton, Stahl, Gummi, und das in Kombination mit Samt und Seide, edlen Hölzern, oder billigen Blechen … „Anything goes“ scheint das Motto der postmodernen Möbelrevolte zu sein, und es wird alles neu gedacht, neu interpretiert oder in neue Zusammenhänge gebracht: alte Wohngewohnheiten und die Klischees von Gemütlichkeit ebenso wie die bekannten Designklassiker oder kitschige Stilmöbel. Alles wird jetzt zur Inspirationsquelle und das Möbel vom funktionalen Gebrauchsgegenstand zum ironischen Statement in Objektform.

DIE NEUE DEUTSCHE HEIMAT

Volker Albus etwa, einer der Protagonisten und Theoretiker des „Neuen Designs“, macht in einem schönen neuen Heimatgedicht Schluss mit dem romantischen Heimatbild des deutschen Kleingärtners und denkt den Begriff der Heimat neu und zeitgemäß: Seine Erfahrung der Heimat ist nicht die des romantischen Wanderers oder des Flaneurs, sondern die des Pendlers und des Baumarktkunden der Gegenwart, und seine Entwürfe spiegeln diese Erfahrung wieder. Er kombiniert dabei auch rot-weiße Signalleuchten mit neobarockem Kitsch, Stahl und Fahrbahnmarkierungen mit rotem Plüsch und Samt.

„MEINE HEIMAT IST DIE STADTLANDSCHAFT.
MEINE HEIMAT IST DIE AUTOBAHN,
DIE A3, A4, A59.
DER STAU ZWISCHEN AUTOBAHNDREIECK
HEUMAR UND KÖLN-DELLBRÜCK.
MEINE HEIMAT DAS SIND ROTE
LÄRMSCHUTZWÄNDE, RICHTUNGSPFEILE, HINWEISSCHILDER, MITTELSTREIFEN (…)
MEINE HEIMAT SIND DIE SUPERMÄRKTE,
FREIZEITCENTER UND GEWERBEPARK,
MESSEN UND KULTURJAHRMÄRKTE,
WÜHLTISCHRAMSCH UND AUSVERKAUF (…)“

DAS DEUTSCHE WOHNZIMMER – VOM STILMÖBEL­PARADIES ZUM INDUSTRIE-LOFT UND ZURÜCK

Das deutsche Wohnzimmer war immer schon nicht nur der Ort der Gemütlichkeit sondern auch die Bühne der Repräsentation. Jetzt wird es darüber hinaus zum Experimentierfeld und zeigt die fortschrittliche und aufgeschlossene Haltung des modernen Trendsetters. Der Architekt und Designer Andreas Brandoloni gibt 1987 einen ironischen Kommentar auf das kleinbürgerliche Wohnen ab. Seine Installation „Deutsches Wohnzimmer“ zur Documenta 8 setzt die deutsche Familie sinnbildlich ums Lagerfeuer, über dem der Bratwursttisch für Gemütlichkeit sorgt. Auch andere Vertreter des Deutschen Designs der Achtzigerjahre geben Beispiele für eine neue und „echte“ Rustikalität. Die Städte, in denen sich das Neue Design entwickelt, Düsseldorf, Hamburg oder Berlin, liefern den Stoff, aus dem die Möbel sind. Die Punk- und Hausbesetzer-Szene gibt die Ästhetik vor: leerstehende Fabriketagen, Stahlgerippe, Betonwände, Grafitti sind die rustikale Wirklichkeit der Achtzigerjahre, Sicherheitsnadeln, Handschellen und Rasierklingen werden zum neuen Modeschmuck. Und so werden Stahlregale aus ihrem Lagerhallen-Dasein befreit und ins Wohnzimmer befördert, und Stahlspinde, ausgemusterte Büromöbel, Einkaufswagen und Mülltonnen bestimmen den neuen Einrichtungsstil der Geschmacks­elite. Nur wenige Jahre später findet man das Avantgarde-Design dann in adaptierter Form im Möbelhaus und im Baumarkt wieder. Dieses Neue Deutsche Design der Achtzigerjahre ist immer unterschiedlich bewertet worden, von „Geniestreich“ bis zur „Bastelbewegung“ sprachen die Kritiker, aber es war auf jeden Fall ein wichtiger Befreiungsschlag gegen das vom Funktionalismus geprägte Mainstreamdesign, wie es bis dahin an den Hochschulen gelehrt worden war. Es war die Grundlage für alle neuen Ansätze im Design und im deutschen Wohnzimmer. Dass der biedere deutsche Heimwerker heute zum „Maker“ geworden ist und „witzige“ Sitzmöbel aus Paletten baut, ist nicht zuletzt eine Folge der Designbewegungen der Achtzigerjahre. Damals wurde vieles vorgedacht, etabliert und im Laufe der Zeit bis in den Baumarkt gebracht. Und so manch einer der heutigen Kreativen wäre wahrscheinlich enttäuscht, wenn er wüsste, dass sein neuer Trend eigentlich schon zwei Runden durch die Verwertungsmechanismen der Trendmaschinerie gedreht hat.

1. Andreas Brandolini: Deutsches Wohnzimmer, Installation für die documenta 8 in Kassel 1987. „Wohnen an sich ist konservativ“ beobachtete und kommentierte Andreas Brandolini mit seinem Deutschen Wohnzimmer. Foto: Picture Alliance / dpa

2. Stiletto Studios (Frank Schreiner): Satellight. Die Ästhetik von Punk und Hausbesetzerszene war einer der wichtigen Impulse für das Design der Achtzigerjahre. Foto: Picture Alliance / dpa

3. Plötzlich wird das Wohnen schräg und bunt: Die Mailänder Designergruppe „Memphis“ macht Anfang der Achtzigerjahre wilde Muster und bunte Laminate im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig. Regal „Carlton“, 1981 von Ettore Sottsass. Foto: Picture Alliance / dpa

4. Möbel perdu (Michel Feith): „Rasender Servierwagen“, 1985. Ein ferngesteuerter Roboter unter einer nierenförmigen Karosserie aus Messing, ein gemächlich dahinrollendes Luxusgeschöpf persifliert die Wirtschaftswunderzeit der Fünfzigerjahre. Foto: Picture Alliance / dpa

5. Alte Paletten werden nach der Jahrtausendwende zu neuen trendigen Möbeln verbaut. Foto: Picture Alliance / dpa

6. Volker Albus: Installation „Molto decadente“ 1986/87. Bodenbelag „Roter Platz“, Paravent „Avant/Après“, Kronleuchter „Weaner Blut“, Stehtisch „Cesar’s Palace“, Lichtobjekt „Baccara“, Hocker „Lido“. Foto: Bernhard Schaub.

7. So kann’s gehen: Der Punk wird vom Spießerschreck der späten Siebziger zum modischen Trendsetter der Achtzigerjahre. Foto: Picture Alliance / dpa